Inside India – Unser Interview mit: Florian Wenke von der Germany Trade & Invest (GTAI) zum indischen Agrarsektor

Florian Wenke studierte Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Heidelberg, Göttingen und Pune in Indien. Seit 2012 beschäftigt er sich intensiv mit Indien und hat seitdem mehr als 7 Jahre vor Ort verbracht.

Sein beruflicher Schwerpunkt liegt in der Außenwirtschaftsförderung. Über verschiedene Stationen in diesem Bereich kam er Anfang 2020 zu Germany Trade & Invest (GTAI), der Außenwirtschaftsförderungsgesellschaft des Bundes. Seit Frühjahr 2021 berichtet er für GTAI aus Mumbai über die wirtschaftlichen Entwicklungen in Indien, Sri Lanka und den Malediven.

Indien ist auf dem Weg zur Weltmacht. Schon heute leben dort rund 1,43 Milliarden Menschen, mehr als in China. In vier Jahren wird die indische Wirtschaft Deutschland und Japan überholt haben. Derzeit liegt das Land auf Platz fünf, 2030 will Indien die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt sein.

Wachstumstreiber sind vor allem die großen Städte und die Innovation Hubs, die die Regierung überall auf- und ausbaut. Indien ist aber auch ein riesiges Agrarland: Rund 50 Prozent der Bevölkerung leben noch auf dem Land. Indien hat rund 100 Millionen Bauern und baut 400 verschiedene Reissorten an.  

Doch wer jetzt Bilder von beladenen Ochsenkarren und Menschen, die von Hand Reis schneiden, vor Augen hat, wird der Landwirtschaft in Indien nicht gerecht.

  1. Im indischen Agrarsektor haben Digitalisierung und Precisionfarming längst Einzug gehalten. Wo steht Indien Ihres Erachtens und was dürfen wir in den nächsten Jahren von Indien erwarten?

    Indien steht am Anfang der Entwicklung. Die bewirtschafteten Flächen sind mehrheitlich sehr klein – rund 86 Prozent sind kleiner als zwei Hektar. Das erschwert den Einsatz zahlreicher Anwendungen im Bereich Precisionfarming. Allerdings arbeitet die Regierung daran, die industrielle Wertschöpfung im Land zu erhöhen. Vereinfacht gesagt bedeutet mehr Industrie mehr Fabriken. Diese benötigen Arbeitskräfte. Wenn mehr Leute in Fabriken arbeiten, stehen sie nicht für die Landwirtschaft zur Verfügung. Daher werden Flächen konsolidiert und mehr digitale und mechanische Hilfsmittel kommen zum Einsatz. Bereits jetzt kommen digitale Anwendungen zum Einsatz, jedoch noch nicht im großen Umfang oder in allen Landwirtschaftsbetrieben. Die indische Bevölkerung ist im Durchschnitt jung und offen für neue Technologie. Dementsprechend dynamisch werden sich die Themen Digitalisierung und auch Precisionfarming in den kommenden Jahren entwickeln.

  2. Indien hat einen boomenden Start-up-Sektor, vor allem bei Online-Bezahlsystemen. Aber obwohl Indien einen so großen Landwirtschaftssektor hat, haben Außenstehende oft den Eindruck, dass dieser Bereich bei Start-ups nicht besonders beliebt ist und wenig Beachtung findet. An was liegt das, oder täuscht das?

    Der Eindruck täuscht. Start-ups haben die Landwirtschaft bereits vor einiger Zeit für sich entdeckt, auch weil zahlreiche Gründer aus kleineren Städten oder ländlichen Regionen des Landes kommen. Sie kennen daher die konkreten Probleme und Anliegen von Landwirten. Vielen Start-up-Gründer geht es mit ihren Anwendungen nicht primär um finanziellen Erfolg, sondern sie wollen das Leben von Menschen verbessern. Ganz konkret geht es darum, die Einkommen von Leuten auf dem Land zu erhöhen. Dies geschieht zum Beispiel durch digitale Markplätze, die Käufer und Verkäufer direkt und ohne Mittelsmann verbinden. Aber es gibt auch andere Anwendungsbeispiele, etwa bei der Auswertung von Wetterdaten oder bei der richtigen Anwendung von Agrarchemikalien. Ebenfalls genutzt werden Anwendungen zur Auswertung von Pflanzen- und Bodendaten, die dabei helfen, Schädlingsbefall korrekt zu erkennen und den richtigen Zeitpunkt für den Einsatz von Dünger oder Pestiziden zu bestimmen. Sofern die Anwendungen einfach zu handhaben sind und die Landwirte den Nutzen erkennen, werden die Apps auch genutzt.

  3. Indien kann seine Bevölkerung derzeit selbst ernähren. Allerdings steigt der Nahrungsmittelverbrauch, die lebensmittelverarbeitende Industrie ist wenig entwickelt und die Logistik herausfordernd. Oft heißt es, dass Indien kein Produktions- sondern ein Verteilungsproblem hat. Welche Anstrengungen unternimmt das Land, dieses Problem zu lösen?

    Indien zählt zu den größten Lebensmittelproduzenten der Welt und die Versorgungssicherheit der eigenen Bevölkerung ist der Regierung sehr wichtig. Auch mit einer wachsenden Bevölkerung wird sich Indien weitgehend selbst versorgen können. Es gibt noch deutliches Steigerungspotenzial bei den Erträgen pro Hektar, etwa durch Nutzung neuer Sorten oder gesteigerte Mechanisierung. Problematisch ist derzeit eher, dass vieles von dem, was geerntet wird, verrottet bevor es zu den Verbrauchern gelangt. Bei Obst liegen die Verluste geschätzt zwischen 6 und 15 Prozent, bei Gemüse zwischen 5 und 12 Prozent und bei Getreide zwischen 4 und 6 Prozent. Das ließe sich zu einem Großteil vermeiden. Der Regierung ist das Problem bekannt und sie versucht gegenzusteuern. Es gibt Förderprogramme für den Ausbau von Kühlketten, aber auch für mehr Verarbeitung von Lebensmitteln. Dosenobst ist beispielsweise nicht nur länger haltbar, sondern schafft auch mehr Wertschöpfung im Land – man schlägt also zwei Fliegen mit einer Klappe.
    Unabhängig davon erlebt das gesamte Land derzeit einen massiven Ausbau der Infrastruktur, getrieben durch öffentliche Investitionen. Bessere und schnelle Transportwege helfen der gesamten Wirtschaft, darunter auch dem Agrarsektor.
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